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»Ich sage dir, Miss LePage wird auf deine Tricks nicht hereinfallen.« Sebastians fieses Grinsen hätte jedem Leinwandschurken zur Ehre gereicht.

Christopher legte einen in Kaschmir gehüllten Ellbogen auf den Kaminsims, knapp an den Glasscherben vorbei, reckte den Nacken, entspannte die Schultern – und lächelte. »Komm schon, Caughleigh. Woher willst du denn Dixies Geschmack so sicher kennen?«

»Dieses Theater ist garantiert nicht nach meinem Geschmack«, murmelte Dixie. Zumindest hatte sie geglaubt, sie hätte gemurmelt, aber offenbar hatten es beide gehört.

Christopher gestattete sich ein Grinsen. Sebastian ballte die Faust. Er sah so verbiestert drein wie Queen Victoria.

Er tippte ihr auf den Arm. »Wir sollten vielleicht allmählich gehen. Ich habe für acht Uhr reserviert.«

Was denn reserviert?

»Also morgen dann?«, sagte Christopher. »Pass gut auf die Dame auf, Caughleigh. Sollte was passieren, könnte Blut fließen!«

Irgendwie klang das alles wie bitterer Ernst. Das war reinstes Neandertal hier. Am besten nichts wie weg, ehe die beiden sich noch die Schädel einschlagen würden. »Morgen, aber nicht zu früh.«

»Vielleicht am Nachmittag dann? Ich würde ja zuvor anrufen, wenn ich könnte.«

»Ich bin den ganzen Tag da.«

Sebastian hatte einen eleganten Landgasthof mit eichengetäfelten Wänden, Giebeldecke und Sprossenfenstern ausgesucht. Bei einer anderen Gelegenheit und in anderer Gesellschaft hätte sich Dixie von der Atmosphäre, dem gestärkten Leinen auf den Tischen und den Bienenwachskerzen in silbernen Haltern sehr wohl bezaubern lassen, aber an jenem Abend fühlte sie sich nur überrumpelt.

»Laden Sie eigentlich alle Ihre Klienten hierher zum Essen ein?« Der Teufel hatte sie geritten, das zu fragen.

Er aß gerade Kalbsbries in Sherry und blickte verdutzt auf. »Nein, tu ich nicht.« In der darauf folgenden Stille kratzte sein Messer dreimal auf dem Teller.

Dann servierten zwei Kellner den Hauptgang. Dixie konzentrierte sich auf die Farben der Gemüse auf ihrem Teller, um das Steak Diana möglichst zu ignorieren, das vor ihren Augen noch in der Pfanne brutzelte. Eigentlich sollte sie dankbar sein und das gute Essen genießen, aber sie wurde den Verdacht nicht los, dass sie diejenige war, die am Ende bezahlen würde, auch wenn Sebastian die Rechnung begleichen mochte.

Sie spürte abermals eine Berührung am Knie, gerade als der Kellner das dampfende Stück Fleisch auf einen angewärmten Teller gleiten ließ.

»Haben Sie denn keine Bedenken wegen Rinderwahnsinn?«, fragte sie.

Sebastians Hand schwebte über dem Messer und erstarrte. »Man verwendet hier nur Charolais-Rindfleisch aus Frankreich.« Ja, sie würde dafür bezahlen. »Noch Champagner?«

Auf ein Zeichen seinerseits füllte ein Kellner ihr Glas, ehe sie ablehnen konnte. »Sie möchten keinen mehr?« Sebastian hielt sein Glas bedeckt.

»Ich muss fahren.« Sollte sie etwa die ganze Flasche allein austrinken? Vor solchen Männern hatte Gran sie immer gewarnt. Sein Angebot, einen Dessertwein zum Kuchen und einen Likör zum Kaffee zu nehmen, lehnte sie natürlich ab.

Auf dem Weg zum Auto spürte sie seine warme Hand im Rücken. Seine Finger glitten über die Seide langsam bis zu ihrem Nacken hoch. Sie hatte genug, mehr als genug. »Vielen Dank für die Einladung zum Abendessen und die Party davor. Es war schön, so viele neue Leute kennenzulernen.«

»Der Abend ist noch nicht zu Ende. Was halten Sie von einem Kaffee bei mir zu Hause? «

Kaffee? »Nein, danke. Es ist spät genug, und ich habe morgen eine Menge vor.«

Einen letzten Versuch startete er noch direkt vor Emilys Haus. »Ich kann Sie also nicht überreden?« Seine schwitzige Hand umfasste ihr Knie.

Sie öffnete die Tür und stieg schnellstmöglich aus. Vom Gehsteig aus rief sie ihm nach: »Sebastian, ich brauche einen guten Anwalt und keine Affäre.« Das hatte er hoffentlich kapiert. Bei manchen Männern half einfach nur die Holzhammermethode.

Auf ihrem Zimmer kickte Dixie die Schuhe von den Füßen und nahm ihre Ohrringe heraus. Das Telefon läutete, sein Klang hallte durch das stille Haus.

Nach ein paar Minuten stürmte Emily nach unten. Die Haustür ging auf. Dixie konnte nicht länger an sich halten; durch den Vorhang hindurch sah sie gerade noch rechtzeitig, wie Emily ins Auto stieg und Sebastian losfuhr. Was sollte das bedeuten?

Es war wieder still im Haus. Dixie wäre am liebsten aufgeblieben, um Emily später zu fragen, ob sie ihren »Kaffee« denn genossen hatte. Dieses Dorf hatte wahrlich mehr zu bieten als eine Seifenoper. Nun ja, sie würde einen Monat bleiben und dann in die Normalität der guten alten USA zurückkehren.

Dixie öffnete das Fenster, reckte den Kopf hinaus und erkannte, wenn sie zur Seite schaute, auf der anderen Seite des Dorfangers die dunklen Umrisse ihres Hauses. Es brannte schon wieder Licht! Da trieb sich wirklich jemand in ihrem Haus herum!

Innerhalb weniger Minuten hatte sie Turnschuhe und einen Pullover angezogen. Sie nahm das Auto. Die zehn Minuten zu Fuß waren mit dem Auto in drei Minuten zu schaffen. Sie schaltete das Licht aus und tastet sich die letzten dreißig Meter vorsichtig heran. Sie hielt auf der schmalen Straße neben dem Haus und schnappte sich die schwarze Taschenlampe. Wer auch immer sie hier verloren haben mochte, würde sie notfalls als Schlagwaffe zu spüren bekommen.

Das Haus war jetzt dunkel. Hatte sie vielleicht doch einen Fehler gemacht? Ein Anruf bei Inspektor Grace wäre vernünftiger gewesen. Ihre Hand umklammerte die Taschenlampe. Zwei Schritte hinter dem Gartentor sah sie eine dunkle Gestalt vor sich.

»Stehen bleiben, Kumpel!«, rief Dixie und leuchtete mit der Taschenlampe voll nach vorne. Der Strahl erleuchtete ein bleiches Gesicht und eine dunkle lederne Augenklappe.

Christopher! Also war das ganze Gerede, Bücher kaufen zu wollen, nur geheuchelt.

»Dixie, machen Sie diese verdammte Taschenlampe aus!« Er klang eher verärgert als schuldbewusst. Nerven hatte der Mann!

»Pah! Verschwinden Sie, auf der Stelle, und lassen Sie sich hier nie wieder blicken!«, rief sie. Dabei fühlte sie sich wie eine Heldin in einer Westernschnulze, nur dass sie statt mit einer Knarre mit einer Taschenlampe herumfuchtelte.

Er starrte sie direkt an, vom Licht nicht geblendet. »Immer mit der Ruhe, Dixie«, sagte er und trat einen Schritt nach vorne.

»Schluss jetzt! Gehen Sie oder ich schreie!«

»Damit warnen Sie doch bloß den Einbrecher!«

Er hatte geflüstert, aber sie verstand jedes Wort. Ein Blick nach oben bestätigte, dass das Licht im oberen Stockwerk noch immer unterwegs war. Noch während sie schaute, völlig perplex, spürte sie seine Hand an ihren Händen; er knipste die Taschenlampe aus und zog sie zwischen zwei dornige Büsche. Sie versuchte sich mit den Tricks, die sie im Selbstverteidigungskurs gelernt hatte, zu befreien, aber es funktionierte nicht. Etwas kratzte an ihrem Knöchel, und ein Zweig fuhr ihr mitten durchs Gesicht. Dann legte er einen Arm um ihre Schultern und drückte sie gegen seine harte Brust. Sie wollte ihn noch mit der flachen Hand wegdrücken, aber seine Brust fühlte sich an wie Stahl, und sein Arm umklammerte sie wie ein Schraubstock. »Lassen Sie mich los.«

»Sofort.«

Nichts tat sich.

»Wann denn nun? Nächste Woche vielleicht? Da treibt sich jemand in meinem Haus herum, und ich will wissen, wer das ist.«

»Dieses ›My home is my castle‹-Getue ist zwar beeindruckend, aber ziemlich töricht, auch wenn der Engländer diesen Spruch gerne auf den Lippen hat.«

Das war zu viel.

»Ich bin eine Frau und Amerikanerin, sollten Sie das noch nicht bemerkt haben.«

»Klar hab ich’s bemerkt.« Daran konnte kein Zweifel bestehen. Ihr Busen war schon ganz flach gedrückt an seiner Brust.

»Wollen Sie mich noch diese Woche oder erst nächste Woche loslassen?«

»Sofort, wenn Sie versprechen, nicht gleich loszustürmen, um Ihr Haus zu retten.«

»Immerhin mein Haus, in dem sich Einbrecher herumtreiben.«

»Und die sind heutzutage mit Pistolen, Messern, Tränengas und Fahrradketten bewaffnet. Lassen Sie’s«, flüsterte er, »vertrauen Sie mir.«

»Nennen Sie mir einen guten Grund.«

»Ich bin nicht derjenige, der hinter den Erstausgaben Ihres Urgroßvaters her ist.« Damit hatte er recht. Das Licht bewegte sich wieder, verschwand und tauchte etwas weiter unten wieder auf.

»Der Typ nimmt sich wirklich Zeit«, flüsterte Christopher ihr ins Ohr und zog sie zu sich an die Wand heran. Seine Arme legten sich locker um ihre Schultern.

»Wer?«

»Dass ich es nicht bin, wissen Sie. Wer könnte denn sonst noch rein?«

»Sebastian, aber der macht Kaffee für Emily.«

Sie hörte, wie er vor sich hin kicherte, trotzdem blieb seine Brust völlig reglos. »Also haben Sie seinen Verführungskünsten widerstanden?«

»Das war nicht weiter schwer.«

Selbst ein Lachen bewirkte keinerlei Bewegung in seiner Brust. Wo trainierte dieser Mann bloß?

»Schluss jetzt damit.«

Sie war gekommen, um einen Einbrecher zu stellen, nicht, um sich über Sebastians Avancen zu unterhalten.

»Wer auch immer es ist, die betreffende Person hat zumindest keine Angst davor, nachts in ein Geisterhaus einzudringen.«

»Ich bitte Sie!«

»Die Dorfbewohner glauben, Ihre Tanten spuken in dem Haus herum.«

»Ich nicht. Ich glaube nicht an Geister und schon gar nicht an solche mit Taschenlampen.«

»Sie waren außerdem der Meinung, dass es Hexen waren.«

»Hexen gibt’s in meinen Augen auch keine.«

»Was für eine Frau. Schert sich weder um Hexen noch um Geister. Und wie steht’s mit Feen, Elfen und Kobolden?«

»Sind mir auch egal, genauso wie Hobbits.«

»Und wie steht’s mit …«

Er zögerte.

»… mit Vampiren?« Während er das sagte, glitten seine Finger kühl an ihrem Nacken entlang.

An der Stelle trat sie ihm entschieden auf den Fuß. Er zuckte weder zusammen noch zurück, sondern sah ihr bloß ins Gesicht.

»Nur bei Anne Rice. Lassen Sie doch endlich den Unsinn! Ich bin nicht hier, um herumzualbern. Überhaupt, was machen Sie eigentlich hier?«

»Dasselbe wie Sie. Ich bin zufällig vorbeigekommen und hab Licht gesehen.«

Er zischte die Worte fast, als er sie von sich wegschob. An ihren Schultern spürte sie die Kühle der Nacht. Dann beobachtete er kurz das Fenster.

»Ich kümmere mich darum. Gehen Sie ins Auto zurück und verriegeln Sie die Türen. Noch besser, Sie fahren gleich nach Hause.«

»Ich geh hier nicht weg, solange dieser Kerl da drin ist.«

Er hielt einen Moment inne, wie um Atem zu holen, aber Dixie hörte keinerlei Atemgeräusch. »Wir könnten versuchen, ihm einen Schrecken einzujagen, ihn vertreiben, ehe er was klauen kann. Einverstanden?«

Warum nicht? Immerhin ging es um ihren Besitz. »Was soll ich machen?«

»Sie schleichen sich raus, setzen sich ins Auto und verriegeln die Tür.«

Seine Stimme klang wie immer, dabei schaute er sie aber mit einer Eindringlichkeit an, die sie erbeben ließ. Derart nah schien sein Auge warm zu leuchten, als er sie ansah. Einen Moment lang fühlte sie sich schwach, wie benommen. Dann gab sie sich einen Ruck und fand in die Wirklichkeit zurück.

»Das meinen Sie doch nicht ernst!« Sie sollte im Auto sitzen, während er einem möglicherweise bewaffneten Einbrecher auflauerte.

Er runzelte die Stirn. »Beruhigen Sie sich. Ich will doch nur, dass Sie sofort fliehen können, sollte die Situation eskalieren.«

Sie hatte eher den Eindruck, als wollte er einen auf Kavalier alter Schule machen.

»Wozu dann die Tür verriegeln?«

Er zog sie näher heran und flüsterte: »Wollen Sie mir zeigen, wie schwierig Sie sein können?«

Wieder spürte sie diese Benommenheit, das Gefühl von Wärme, von Schwäche. »Ich bin nicht schwierig, sondern vernünftig. Sie haben von Waffen gesprochen. Warum wollen Sie dann unbewaffnet hineinstürmen?«

Er kicherte. »Ich bin doch Superman, erinnern Sie sich nicht?« Ihr Zögern wertete er als Zustimmung. »Vertrauen Sie mir. Ich weiß, was ich tue. Warten Sie im Auto. Vielleicht brauche ich ja später Ihre Hilfe.«

Dixie stimmte zu, wenn auch ungern, und verließ das Grundstück durch den Nebenausgang, ging aber nicht direkt zu ihrem Auto. Ein am Straßenrand geparkter Wagen erregte ihre Aufmerksamkeit. Christophers? Ihm hätte sie ein schickeres Gefährt zugetraut als einen klapprigen Kleinwagen. Gehörte es womöglich dem Einbrecher? Warum nicht? Dank ihrer Taschenlampe konnte sie die Nummer problemlos entziffern.

Was war eigentlich mit der viel gepriesenen ländlichen Stille? Es raschelte, knackte und ziepte durch die Nacht. Fast ein wenig unheimlich! Sie beschloss, die Geräusche und ihr inneres Beben in Christophers Armen zu vergessen. Allmählich wurde sie unruhig und machte kehrt.

Durch die Nacht drang ein Schrei. Eine Tür knallte, und Dixie bog gerade rechtzeitig um die Ecke, um zu sehen, wie eine dunkle Gestalt auf das geparkte Auto zulief. Der Motor sprang an, aber als das Auto anfuhr, kam eine zweite Gestalt hinterhergerannt. Das Auto machte einen Schwenk, gerade als der Mann herankam. Dixie blieb schier das Herz stehen, als sie sah, wie Christopher im Licht der Scheinwerfer in hohem Bogen durch die Luft geschleudert wurde. Sie rannte die Straße entlang, als er aus dem Graben kletterte.

»Sie sollten doch im Auto sitzen.«

»Sind Sie verletzt?« Er musste es sein.

»Nur etwas durcheinander.«

Durcheinander? Er musste verletzt sein nach diesem Sturz. Sie dachte an Knochenbrüche, innere Verletzungen – aber er stand da wie eine Eiche. »Ich hol das Auto. Sie müssen zum Arzt.« Ohne auf eine Antwort zu warten, rannte sie los, so schnell sie konnte. Als sie zurückkam, stand er gegen einen Baum gelehnt. Sie blieb stehen und öffnete die Beifahrertür.

»Darf ich einsteigen?«

Er stand da, die Hand an der Tür. War das etwa typisch britisch oder was? »Natürlich! Steigen Sie ein!« Seine Beine erwiesen sich als etwas zu lang für den Kleinwagen. Dixie knipste die Innenbeleuchtung an. »Das war kein Einbrecher, sondern ein brutaler Killer!«

»Ich bin okay. Lieber wär’s mir, Sie hätten sich die Autonummer gemerkt.«

Das war zu viel. »In welcher Welt sind wir hier eigentlich? Sie sind halb tot und machen sich Sorgen wegen einer Autonummer. Wie auch immer, ich hab sie.« Sie sagte die Nummer auswendig her, erstaunt, dass sie sie in ihrer Aufregung nicht vergessen hatte. »Nun lassen Sie mich mal sehen.«

Er schien nirgendwo zu bluten, hatte aber Schlamm und Erde im Gesicht und an den Kleidern; in seinen Haaren hing Gras, und sein Kaschmirpullover würde keine weiteren Cocktailpartys mehr sehen. An der Stelle, an der Pullover und Hemd zerrissen waren, schien seine weiße Schulter durch. Sie streckte die Hand aus, dort zumindest musste er verletzt sein.

Seine Hand umfasste ihr Handgelenk. »Schon gut, meine Liebe.«

»Sie könnten bluten.«

Er packte ganz schön zu für einen Mann, der knapp dem Tod entronnen war.

»Tu ich nicht.«

»Lassen Sie mich nachsehen.«

Er legte ihre Hand an das Lenkrad. »Wenn Ihnen danach ist, einem Mann die Kleider vom Leib zu reißen, dann haben Sie Ihre Chance mit Caughleigh bereits gehabt. Verschonen Sie mich bitte. Ihr Haus ist für diese Nacht sicher.«

»Vergessen Sie das Haus! Viel wichtiger ist, wie es Ihnen geht. Sie brauchen einen Arzt.«

Seine Finger schlossen sich um ihre Hand, als diese zum Schaltknüppel griff. »Merken Sie sich das. Ich brauche keinen Weißkittel, und Sie fahren jetzt nach Hause. Ich bin nicht verletzt.«

»Unmöglich. Ich habe Sie doch durch die Luft fliegen sehen.«

»Schon mal was von Ju-Jutsu gehört, Dixie? Ich weiß, wie man fällt.«

Er hätte nicht so aufrecht dasitzen können und zupacken wie ein Berserker, außerdem würde seine Brust sich schwer heben und senken, wäre er tatsächlich verletzt gewesen.

»Sie sind Superman, oder nicht?«

»Ihnen gefällt diese Figur, geben Sie’s zu.«

Beinahe hätte sie aufgegeben. Sie bestand darauf, ihn nach Hause zu fahren, was er auch zuließ. Jedoch weigerte er sich, dass sie ihn auch nur einen Schritt bis zur Tür begleitete. »Im Gegensatz zu Ihnen habe ich hier einen Ruf zu verlieren«, sagte er. »Stellen Sie sich bloß das Gerede vor – zuerst verpassen Sie Sebastian einen Korb, um nur wenig später hier vor meinem Haus zu landen. Wir müssten uns zweifelsohne duellieren.«

»Ich dachte immer, Duelle seien seit dem letzten Jahrhundert verboten.«

»Ich bin ein Mann mit Vergangenheit.«

Er drückte ihr wie zum Abschied die Hand. Dixie konnte sich nicht von ihm losreißen. Sie griff nach seiner Schulter und wandte sich ihm zu. Wenigstens ein Kuss zum Abschied. Das war das Mindeste für einen Mann, der für ihr Haus sein Leben riskiert hatte.

Sie kam seiner Wange immer näher, als er schließlich den Kopf drehte und sein Mund ihre Lippen berührte, kühl und glatt wie Marmor. Als jedoch ihre Lippen die seinen liebkosten, empfand sie nur Weichheit und Wärme. Er schmeckte nach Gewürzen, Nacht und Abenteuer. Langsam, wie eine aufblühende Blume im Frühling, öffnete sie den Mund. Beinahe zögerlich streichelte seine Hand ihren Nacken und durch ihr Haar. Sie seufzte und ließ ihre Zunge in seinen Mund gleiten.

Die ganze Hitze des Sommers stieg in ihr auf. Ihr Atem wurde heftiger, sie wollte mehr, und er gab ihrem Drängen nach. Selige Wärme durchströmte sie, und in ihren Adern pochte das Begehren. In diesem Kuss wurden sie beide eins. Die Zeit blieb stehen. Dixie spürte nur noch eines: das brennende Verlangen nach mehr.

»Christopher«, murmelte sie, als er sich zurückzog.

»Denk an meinen Ruf«, frotzelte er. Sie lehnte den Kopf gegen seine kräftige Schulter. Mit unendlicher Zärtlichkeit streichelte er ihren Hals vom Nacken bis zur Kehle. Seine Berührung schien den Himmel auf Erden zu versprechen. Wenn er doch nie damit aufhören würde, wenn er sie doch einladen würde zu bleiben. Was auch immer, es sollte ewig so weitergehen. Ihre Hand glitt an seine Brust, tastete nach den Hemdknöpfen, voller Sehnsucht nach der Wärme eines männlichen Körpers.

Seine Hand kam ihr dazwischen. »Dixie, wir müssen Schluss machen! Ich bin müde.«

Sie setzte sich auf. Wie egoistisch von ihr! Er war verletzt, hatte zumindest schwere Prellungen, und sie hatte nichts anderes im Sinn, als sich an ihn ranzuschmeißen.

»Fahr nach Hause, zu Emily, und verzichte darauf, weiter die Heldin zu spielen. Versprochen?«

Sie versprach es ihm, wartete aber, bis die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Sicher hätte sie noch einmal vorbeigeschaut an ihrem Haus, aber sie hatte ihm ihr Wort gegeben. Und das konnte sie, nach einem Kuss wie diesem, nicht brechen.

Beim Ausziehen in ihrem Zimmer unter dem Dach sah Dixie auf die Uhr. Die ganze Geschichte mit Christopher, ihrem Haus und dem irrsinnigen Einbrecher hatte weniger als eine halbe Stunde gedauert. Sie unterdrückte ein Schaudern. Es war vorüber. Es gab keinen Grund mehr zur Sorge. Sie war zu erschöpft, um sich noch Sorgen zu machen, erschöpft davon, zudringliche Bauerntölpel abzuwehren, Einbrecher zu jagen und Verletzte zu versorgen. Sie warf ihre Kleider über einen Stuhl und fiel, ohne sich davor die Zähne zu putzen, sofort ins Bett. Emilys kühle Leinenbettwäsche umhüllte ihren erschöpften Körper wie beruhigender Balsam. Nichts jedoch konnte den Aufruhr in ihrem Inneren lindern. Was hatte sie nur getan? Sie hatte sich einem Mann blindlings an den Hals geschmissen, nur weil ihre Hormone wegen ein bisschen Stress verrückt spielten. Sie spürte noch immer seine Lippen auf den ihren, seine Zunge in ihrem Mund, ganz zu schweigen davon, was sich sonst in ihrem Körper abspielte. Morgen würde er kommen, um ihre Bücher durchzusehen. Was hatte sie da nur ins Rollen gebracht?

Sebastian ignorierte das Telefon. Während Emily im Hintergrund laut stöhnte, läutete es genau sechsmal. Als er über ihren Busen streichelte, ging der Anrufbeantworter an. »Onkel, ich weiß, du bist da, geh schon ran!«

Sebastian kochte vor Wut. Brachte James denn gar nichts auf die Reihe? Er hatte den ganzen Abend Zeit gehabt, ohne diesen Störenfried, dieses Weib. Sebastian beugte sich über Emily und griff zum Hörer. »Ich hoffe, du hast die Sachen gefunden.«

»Keine Chance. Ich hab die Bude jetzt dreimal auf den Kopf gestellt. Da ist nichts.«

»Dann wirst du beim vierten Mal erfolgreich sein. Und untersteh dich, ohne die Unterlagen nach Hause zu kommen.«

»Nicht um alles in der Welt! Keine zehn Pferde bringen mich dorthin zurück. In diesem Kasten spukt es. Wenn da nur die Geräusche wären, aber heute Abend hab ich ein kreidebleiches Gesicht am Fenster gesehen. Niemand kann mir weismachen, dass das einer von den Dorfburschen war!«

»Geh schon, los.«

»Niemals.«

Sebastian fluchte, als James auflegte. Er wandte sich Emily zu.

Sie saß auf dem Tisch, strich ihren Rock glatt und stopfte die Bluse in den Bund. »Wenn er ihre Aufzeichnungen nicht findet, sind wir dran.«

»Noch nicht. Wir werden sie finden. Wenn sie so gut versteckt sind, wird auch diese Miss LePage kaum darüberstolpern. Sie müssen in der Bibliothek sein. Sämtliche anderen Unterlagen habe ich genauestens durchforstet. Auf der Bank ist nichts. Das weiß ich. Die Rolle des Nachlassverwalters hat ihre Vorteile.« Er schob das Hemd in die Hose und schloss den Reißverschluss.

Emily stand auf. »Was machen wir, wenn wir nichts finden?«

»Zeit gewinnen. Die Sache hinauszögern. Unserer Miss LePage das Leben schwer machen. Vielleicht braucht James ja auch Unterstützung.«

»Und wer soll das sein?« Emily sah ihn mit großen Augen an und schüttelte den Kopf. »Ich nicht, nicht um alles in der Welt.«

»Du hast viel zu verlieren, wenn die Wahrheit herauskommt. Deine Bank wäre sicher nicht allzu glücklich über die Vorstellung, eine Hexe zu beschäftigen. Schlecht fürs Image.«

»Es ist nicht mehr verboten. Ich kann ganz ruhig sein.«

»Wirklich?« Er umfasste ihren Nacken und streichelte mit der anderen Hand ihr Kinn. Dann küsste er sie, drängte mit der Zunge zwischen ihre Lippen. Er küsste sie lange genug, bis sie aufseufzte, seine Hand nach wie vor fest in ihrem Nacken. »Du wirst tun, was ich verlange, Emily. Weil ich es will.«

»Was verlangst du?« Sie sah nun völlig derangiert aus mit ihrem zerwühlten Haar, dem verschmierten Lippenstift und dem zerknitterten Rock.

»Gib mir zwei Tage. Mach unserer Dixie zum Sonntag ein schönes Frühstück, und zwar eines, das es wirklich in sich hat, damit sie garantiert ein paar Tage im Bett bleibt.«

Ihre Augen weiteten sich, als ihr dämmerte, was er meinte. »Das kann ich nicht tun!«

Seine Hand wanderte von ihrem Nacken zu ihrem Busen. »Klar kannst du. Wozu bist du denn eine Kräuterspezialistin, wenn du deine Fähigkeiten dem Zirkel verweigerst?«

»Hier geht es nicht um den Zirkel, sondern um dich.«

»Das ist ein und dasselbe, jetzt, wo die alten Ladys verschwunden sind. Ich werde nicht zulassen, dass eine aufmüpfige Amerikanerin alles ruiniert. Sorg lediglich dafür, dass sie ein paar Tage nicht mehr vom Töpfchen runterkommt. Die junge Dame strotzt vor Gesundheit, da kann nichts schiefgehen. Marlowe mischt auch mit. Wir müssen auf der Hut vor ihm sein, und du ziehst unsere Dixie aus dem Verkehr.«

Jegliche Farbe wich aus ihrem Gesicht. »Sebby, das geht zu weit.«

Sebastian zog ihren Kopf wieder hoch. »Ich rechne mit dir, Emily.« Sie nickte und ließ sich noch einmal küssen. Dann sah er ihr zu, wie sie ihre Schuhe suchte, ihre Handtasche nahm und das Haus verließ.

Er brauchte sie, um nicht in große Gefahr zu geraten.

Er fragte sich, was sie wohl verwenden würde. Zaunrübenwurzel? Rhabarberblätter? Genau wollte er es gar nicht wissen. Sollte etwas schiefgehen, würde er seine Hände in Unschuld waschen. Aber davon ging er nicht aus. Schließlich hätte er nach wie vor gerne etwas mit Dixie gehabt.

Dixie sah zu den schiefen Deckenbalken hinauf. Es dauerte ein paar schlaftrunkene Minuten, das Geräusch zu identifizieren – auf das Giebeldach niederprasselnder Regen. Sie kroch unter der Bettdecke hervor und tappte zum Fenster, um die Chintzvorhänge zu öffnen. Regen war gar kein Ausdruck. Die vom Himmel niederstürzenden Wassermassen vollführten einen wahren Trommelwirbel, wohin sie nur blickte. Orchard House stand verschwommen im Zwielicht; ein Auto fuhr die einsame Straße entlang, Spritzwasser links und rechts bei jeder Pfütze. Das also war der berühmte englische Regen, den sie bis dahin nur vom Hörensagen gekannt hatte. Würde wohl nichts werden aus dem Spaziergang zur Kirche und der anschließend geplanten gemütlichen Zeitungslektüre auf dem Dorfanger.

Aber was soll’s. Sie würde den Tag damit zubringen, ihre Bibliothek zu erkunden. Sie hatte alle Zeit der Welt, wenn nur dieser komische Aga keinen Großbrand ausgelöst hatte.

Beim Verlassen der Dusche roch sie, dass gekocht wurde.

»Guten Morgen.« Emily verzog die runden Wangen zu einem breiten Lächeln. »Hab ich mir doch gedacht, dass Sie wach sind. Wie wär’s mit einem netten Plausch beim Frühstück? Geht doch nichts über einen gemütlichen Sonntagvormittag, oder?«

»Vielleicht eine Tasse Kaffee …«, sagte Dixie zögerlich. Sie versuchte, den Geruch einzuordnen. Würstchen oder Speck waren es nicht.

Emily schob den Toast ein und schenkte Dixie ein weiteres Lächeln. »Aber nicht doch, Sie müssen einen Happen zu sich nehmen. Ich habe etwas ganz Besonderes ausgewählt: Kalbsnierchen.«

Nieren! Dixie spürte, wie ihr die Galle hochkam. Eine Tasse Kaffee und dabei zusehen, wie ihre Landlady Speck mampfte, das ja, aber Nieren – niemals!

»Sehr nett von Ihnen, aber ich muss frühzeitig los.« Sie unterdrückte ihre Gewissensbisse angesichts Emilys enttäuschter Miene. Auch auf einen Toast oder Müsli blieb sie nicht. In ihrer Küche hatte sie Pulverkaffee und ein Päckchen Kekse. Das müsste reichen.

Der Aga war nicht ausgegangen. Die Küche war sogar einladend warm bei dem kühlen Schmuddelwetter draußen. Es ging doch nichts über ein Frühstück in den eigenen vier Wänden – nur leider war die Milch in der Speisekammer sauer geworden. Eine Tasse schwarzen Kaffees in der Hand notierte sich Dixie »Kühlschrank« auf ihrer Einkaufsliste. Das Wort stach ihr förmlich in die Augen. Sie war verrückt. Für einen Monat schaffte man sich keinen Kühlschrank an. Und wenn sie doch länger bleiben würde? Niemals. Sie hatte kein Telefon und war nicht vertraut mit der fremden Währung und dem Verkehr auf der falschen Straßenseite.

Sie machte sich noch eine Tasse Kaffee und ging damit nach oben.

Das eindringliche Läuten an der Tür unterbrach Dixie in ihrer Konzentration. Mehr als drei Stunden lang hatte sie sich in die Durchsicht der Bücher vertieft; dennoch widerstand sie der Versuchung, die Glocke einfach zu ignorieren, und schob die staubigen Folianten beiseite. Auf halbem Wege hielt sie inne. Wer war es? Christopher? Ihr schossen die Gerüchte von halbwüchsigen Einbrechern und Vandalen durch den Kopf.

Der Mahagonispiegel in der Diele zeigte einen Ausschnitt des Eingangsbereichs. Dixie sah genau hin – nichts außer dem unaufhörlichen Regen.

Scherzbolde, die läuteten und wieder wegrannten? Dixie war auf alles gefasst. Sie hatte in ihrem Job mit Jugendlichen gearbeitet.

Die Hand am Messingknauf wartete Dixie auf ein nochmaliges Läuten und spitzte durch das Fenster neben der Tür. Christopher! »Komm rein, du wirst ja klatschnass!« Sie öffnete die Tür bis zum Anschlag.

Seine Erwartungen übertreffend, bat sie ihn nicht nur herein, sondern griff sogar nach seiner Hand und zog ihn über die Schwelle. Nach all diesen Monaten war er endlich in diesem Haus. Nun könnte er kommen und gehen, wie es ihm gefiel, aber Dixies freundlicher Empfang löste ein ungutes Gefühl in ihm aus, in einem Herzen, das er nicht hatte. »Ich habe Alf gebeten, einen Lunch einzupacken. Immerhin darf ich dafür einen Blick auf die Bibliothek werfen.«

Ihre warme Hand streifte die seine, als sie den Korb entgegennahm.

»Für etwas Ordentliches zum Essen ist mehr als ein Blick drin. Ich habe lediglich ein Päckchen Kekse im Haus und lechze geradezu nach mehr.«

Nicht anders erging es ihm. Ein Lächeln so warm wie ihre Haut hätte möglicherweise ungeahnte Folgen für sie beide.

Dixie packte Spargel-Quiche aus, griechischen Salat mit Oliven und Schafskäse, etwas, das wie Fleischbällchen aussah, aber laut Alfs Versicherung etwas anderes war, sowie eine Riesenschale mit Obst.

»Das reicht ja für eine ganze Familie«, sagte Dixie und nahm Besteck aus der Eichenanrichte.

»Iss du nur, ich halte mich zurück. Als Allergiker muss ich vorsichtig sein.« Die altbewährte Notlüge war ein Eigentor. Zum ersten Mal in seinem langen Leben versetzte sie ihm einen Stich.

»Ich habe ein schlechtes Gewissen, mir den Magen vollzustopfen, während du zuschaust. Kann ich nicht wenigstens einen Kaffee für dich machen?«

Sie hatte ein schlechtes Gewissen? Was hätte dann er sagen sollen, als sie ihm letzte Nacht zu Hilfe gekommen war? Besser, er stellte seine Gefühle ganz ab, wenn aus dieser Sache was werden sollte. »Ein Kaffee wäre nicht schlecht.« Flüssigkeiten konnte sein Stoffwechsel verarbeiten. »Setz dich hin und iss.« Je eher sie anfing, umso schneller konnte er sich der Bibliothek widmen.

Sie bestand darauf, erst den Kaffee zu machen. »Bist du sicher, dass ich dich nicht verführen kann?«, fragte sie im Hinblick auf das Essen auf dem Tisch.

Verführen? Du meine Güte! Seit mehr als drei Jahren hatte er nicht das Verlangen gehabt, von einem menschlichen Wesen zu naschen. Nun überwältigte es ihn mit großer Macht, und er musste einen ganzen Nachmittag widerstehen.

»Wunderbar.« Sie schloss die Augen, als sie in ein »Fleischbällchen« biss. »Die sind ja herrlich, zu schade, dass du nicht mitessen kannst.«

»Was ist es denn?«

»Falafel – Kichererbsenmehl, Knoblauch, Kräuter und noch etwas für mich Undefinierbares.«

Sie lächelte zu ihm hoch.

»Ich seh schon, vegetarisch ist nicht dein Ding.«

War es auch nicht. Er ernährte sich von körperwarmem Blut. Ihres wäre gerade recht, aber er würde nie davon kosten. Ein derartiges Verlangen machte ihn verletzlich, und er konnte kein Risiko eingehen. Nicht hier und jetzt. Nicht nach der Umarmung von letzter Nacht. »Lass uns den Kaffee oben trinken.«

»Du willst die Bücher sehen? Na gut.«

Sie packte die Reste des Essens in den Korb. »Hoffentlich hält es sich. Ich habe schon überlegt, einen Kühlschrank anzuschaffen, bin mir aber nicht sicher, ob sich das lohnt. Länger als einen Monat werde ich kaum hier sein.«

Ein ganzer Monat! Er konnte sein Glück kaum fassen. »Ich wusste gar nicht, dass du so lange bleibst. Caughleigh sprach davon, du würdest nächste Woche abreisen.«

»Sebastian ist nicht für meine Entscheidungen zuständig. Ich bin sowieso urlaubsreif und kann genauso gut hierbleiben – kostet außerdem nichts.«

»Ich freu mich riesig, dass du bleibst.«

Sie errötete. Ihre Augen leuchteten, und sie sah verschämt weg. »Komm mit nach oben«, sagte sie. »Ich muss dir was zeigen.«

Sie hatte die Fensterläden geöffnet und das Licht angemacht. Der Raum sah deswegen nicht schöner aus. Bücher aus neunzig Jahren füllten die Regale, stapelten sich in den Ecken und türmten sich auf Tischen und Stühlen. »Jemand hat hier alles durchsucht«, sagte sie wütend. »Überall auf dem Fußboden und den Regalen liegt Staub, aber die Bücher sind bewegt worden.«

»Das hättest du dir denken können.« Hatte sie die letzte Nacht vergessen?

»Das ja.« Ihre dunklen Augenbrauen zogen sich zusammen. »Ich war mir schon an jenem ersten Abend ziemlich sicher, ganz sicher weiß ich es seit gestern, aber ich habe erst heute Vormittag einen ersten Blick hier hereingeworfen. Ich glaubte, die wären im ganzen Haus zu Gange gewesen.«

»Waren sie das etwa nicht?«

»Die anderen Zimmer im ersten Stock wurden nicht berührt, seit Sebastian das Haus verschlossen hat. Nur hier gibt es Fußspuren im Staub, und jemand hat sich an den Büchern zu schaffen gemacht. Warum?«

Er ließ die Frage auf sich beruhen. Eine Antwort hätte ein Dutzend weitere zur Folge gehabt. Je weniger sie wusste, umso besser war es.

»Fehlt irgendwas?«

Sie lachte, ein warmer Ton, der tief aus ihrem Bauch zu kommen schien.

»Wie soll ich das wissen? Das zu überprüfen, dauert eine Ewigkeit, und selbst dann kann ich nicht sicher sein, ob nicht schon viel früher was verschwunden ist. Ich werde lediglich sicherstellen, dass unser Besucher nie wieder hier reinkommt. Heute Nacht lasse ich überall das Licht an und sämtliche Fensterläden und Vorhänge offen. Morgen früh lasse ich Sicherheitsschlösser und ein Alarmsystem installieren und später bin ich sowieso selber da.«

»Du ziehst hier ein?« Eine wunderbare oder vielleicht auch schreckliche Aussicht. Sie wäre näher, aber auch in Gefahr. Aber warum kümmerte ihn das? Er wollte doch nichts außer ein paar Büchern. Gemeinsterbliche waren ihm egal, außer sie kamen ihm in die Quere.

»Schau doch nicht so entsetzt. Immerhin ist es mein Haus, und lieber bin ich hier als in Emilys Gästezimmer.«

»Hast du denn keine Angst davor, alleine hier zu sein?«

»Ich bin es gewohnt, alleine zu sein.«

Diese Worte trafen ihn überraschend tief. Wie konnte sie so schön sein und lebendig und allein? »Auch hier?«

Sie strich sich mit der Hand über die Stirn und durch das kastanienfarbene Haar, als würde sie eine schwere Erinnerung oder eine alte Verletzung wegwischen. »Ich kann mich gut um mich selber kümmern. Emma wohnt nur ein paar Meter weg von hier, und ich werde gute Schlösser haben, damit kein Einbrecher reinkommt.«

Ihn würden sie nicht abhalten. Nun nicht mehr, seit er ihr Gast war. Was war mit den anderen?

»Schau, was ich hier gefunden habe.« Sie ging an die Regale und nahm ein Buch heraus. Als sie zurückkam, leuchteten ihre Augen vor Aufregung. »Ich bin mir sicher, es wird ständig darüber gewitzelt, aber ich konnte einfach nicht anders.« Sie hielt das Buch fest an die Brust gedrückt. »Das musst du sehen.« Sie hielt ihm einen abgewetzten, in Kalbsleder gebundenen Schmöker entgegen.

Er griff mit beiden Händen danach und spürte sofort die Wärme ihrer Brust auf dem Leder. Dann öffnete er es vorsichtig – jeder unsachgemäße Griff könnte den alten Einband zerstören – und starrte auf das Titelblatt. War sie etwa dahintergekommen? Wie?

»Der Jude von Malta. Vor einer Stunde oder so habe ich es entdeckt.« Er nickte, glättete mit seinen kühlen Fingerspitzen die modrigen Seiten. Dann las er das Erscheinungsjahr, hatte aber nicht den Mut, es ihr zu sagen. Er hob den Blick von den abgenutzten Seiten und sah in ihre leuchtenden Augen. »Es ist sehr alt«, fuhr sie fort. »Möglicherweise eine Kopie aus dem 19. Jahrhundert und deshalb ziemlich wertvoll, aber als Erscheinungsjahr ist 1587 angegeben, und ich glaube, das ist falsch.«

»Richtig. Tatsächlich ist es 1589 erschienen.« Er hätte sich auf die Zunge beißen können.

Ihre Augen begannen noch mehr zu strahlen. »Du hast ihn also gelesen?«

»Meinen Namensvetter? Warum nicht? Ja, ich weiß alles über Kit Marlowe.« Er seufzte. Die Vergangenheit saß ihm wie ein Raubtier im Nacken. Er wusste alles.

Sie setzte sich auf die Kante des Eichentischs und blickte ihn an. »Ich habe ihn auf dem College studiert und das Examen mit Englisch im Hauptfach gemacht, danach erst die Ausbildung zur Bibliothekarin. Marlowe hat mich seit jeher fasziniert, er war so talentiert und mysteriös. Fragt sich, wer er überhaupt war. Stammen Shakespeares Werke von ihm? Was ist tatsächlich in jener Schänke in Deptford geschehen? Eine Seifenoper ist nichts dagegen.«

»Will Shakespeare hat Shakespeare geschrieben, und Kit Marlowe ist der Verfasser Marlowes. Und Betrug und Verrat sind keine schöne Sache.«

Sie zuckte zusammen bei diesen direkten Worten. »Du kennst sein Werk wohl wirklich sehr gut.«

Er zuckte bedenklich mit den Schultern. »Könnte man sagen.«

Sie war noch nicht zu Ende. »Der reinste Krimi. So jung und talentiert und kommt bei einer Schlägerei ums Leben, und dann auch noch so eine komische Verletzung …« Sie unterbrach ihren Satz und biss sich auf die Lippen, sah ihm ins Gesicht und wurde puterrot. »Tut mir leid, das war taktlos.«

Er legte das Buch auf die staubige Tischplatte und umfasste ihre Schultern mit den Händen. »Dixie«, flüsterte er, »es macht nichts. Es ist alles so lange her.«

Sie kaute mit den Zähnen auf ihrer Unterlippe. »Ich hab mir nichts dabei gedacht, sondern einfach drauflosgeplappert. Was für ein Zufall aber auch.« Sie schwieg, das Gesicht reumütig angespannt. »Ich bin so taktlos. Ich wollte bloß …«

»Vergiss es. Ich bin andere Sachen gewöhnt. Die Dorfblagen rufen mir ›Pirat‹ hinterher.«

»Was ist passiert?«

Sie fragte ihn nicht nach den Ereignissen in der Schänke in Deptford. Und doch stand die Frage danach im Raum. Sie würde niemals glauben, was dort wirklich passiert war. »Es passierte vor langer Zeit – ich war noch jung und ein ziemlicher Draufgänger. Mit dem einen guten Auge habe ich achtzig Prozent Sehfähigkeit. Es ist nur eine kleine Behinderung.«

Ihre weißen Zähne waren noch immer mit ihren Lippen beschäftigt. Noch eine Minute und es würde Blut fließen. Das konnte er nicht zulassen. Der Duft ihres Blutes würde ihn wahnsinnig machen. Er zeichnete mit zwei Fingern den Schwung ihrer Augenbrauen nach, streichelte über ihre Wangen, beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie sanft auf den Mund.

Wie warm und süß sie war. Sie schmeckte wie Geißblattnektar in einer Juninacht. In seinen Mund drang etwas, das sich wie Sonnenstrahlen auf Marmor anfühlte. Als ihre Zungen sich trafen, seufzte sie wie Espenlaub in einer lauen Nachmittagsbrise.

Dann zog er sich sanft zurück und ließ seine Lippen über ihre erhitzte Stirn gleiten. In ihrer Gegenwart fühlte er sich beinahe wieder als Mann, und das konnte für sie beide gefährlich werden.

»Wenn wir nicht aufpassen, vergessen wir noch, warum wir hier sind«, sagte er und trat einen halben Schritt zurück.

»Warum sind wir denn hier?«, fragte sie. Dabei leuchteten ihre Augen, und ihre Lippen bebten noch immer von seinen Küssen.

»Um zu flirten«, sagte er, wobei er noch immer ihre Hand hielt, aber um Armeslänge zurücktrat. »Die Männer in Amerika müssen ja verzweifeln ohne dich.«

Sie lachte, ohne wirklich amüsiert zu sein. »Ganz so schlimm war es nicht.« Sie zog ihre Hand zurück, als würde sie eine Erinnerung schmerzen. »Was war’s denn nun, wonach du dich umschauen wolltest?«

Sie hatte recht. Immer schön locker bleiben. Er hoffte nur, das würde ihm gelingen.

»Ich interessiere mich für okkulte Themen und für Magie.« Sie legte die Stirn in Falten, und er unterdrückte das prompte Bedürfnis, sie mit den Fingern zu glätten. »Alles über Hexen, Zauberei, das zweite Gesicht, Vampire.« Letzteres fügte er nur wie einen nachträglichen Gedanken hinzu.

»Glaubst du wirklich an all das Zeug? Letzte Nacht hab ich gemeint, du machst Witze.«

»Ich bin bereit, alles zu glauben, was ich nicht widerlegt habe.«

»Ach, ich bitte dich!« Sie rollte die Augen. »Aber wenn du meinst, ich helf dir beim Stöbern.« Sie machte keinen Versuch, ihr Erstaunen zu verbergen. Andererseits verbarg sie nie auch nur irgendetwas. Sie war so offen wie eine Rose im Sommer und ebenso empfindlich.

Gemeinsam durchforsteten sie alles, und auf dem großen Bibliothekstisch häufte sich eine hübsche Menge von Büchern an. »Ein richtiger Berg«, sagte Dixie und warf einen zweifelnden Blick auf den Stapel. »Damit wirst du heute unmöglich fertig.«

»Vielleicht dürfte ich noch an anderen Tagen auf deine Gastfreundschaft bauen?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Wann immer du willst. Ich bin da, sporadisch jedenfalls. Anrufen geht leider nicht, aber du kannst die Bücher haben, wenn du willst. Die Sache interessiert mich nicht. Ich werde sie schätzen lassen.«

Er streckte die Hand aus. »Einverstanden.«

»Sollen wir die Übereinkunft mit einem Kaffee besiegeln?«

Er schüttelte den Kopf. Sein Körper hatte gerade einen Kaffee aufgenommen und würde nicht noch einen vertragen. Nicht vor dem Abend. »Für mich nicht.«

Sie ging weg, um Tee zu machen, und er fand eine Ecke, wo die letzten Strahlen der Nachmittagssonne nicht hinkamen. In wenigen Stunden würde die Dämmerung hereinbrechen.

»Bis morgen dann«, sagte er, als er ihr zum Abschied zuwinkte, eine große hagere Gestalt in der Dämmerung. Dixie verließ das Haus kurze Zeit später; sie hatte sämtliche Lichter brennen und die Läden offen gelassen. Das Haus erstrahlte wie ein Leuchtfeuer über dem Dorfanger, aber zumindest sollten dadurch unerwünschte Besucher fernbleiben. Sie wollte ausgiebig duschen, um den ganzen Staub loszuwerden, und dann später im Barley Mow in aller Ruhe etwas Nettes zu Abend essen. Und sie wollte definitiv nicht weiter darüber nachdenken, wie Christopher küsste.